Der medizinische Blutegel - Ein Tier heilt Tiere

    Tierheilpraktiker (und andere Therapeuten) haben in der Regel mit Tieren als Patienten zu tun. Tiere können aber auch Assistenten bei Therapien sein, wie zum Beispiel der medizinische Blutegel (Hirudo medicinalis officinalis), ein ca. 5-15 cm langes, braunschwarzes, wurmähnliches Tier.

    Einsatzgebiete in der Tierheilpraxis sind beispielsweise bei Pferden akute Erkrankungen wie Hufrehe, traumatisch bedingte Arthritis und Sehnenentzündung, Arthrose und Bursitiden (Schleimbeutelentzündungen), Tendinitis und Tendinosen (Sehnenerkrankungen), Spat Gleichbeinerkrankungen oder Hufrollenerkrankungen und chronische sowie akute Knochenhauterkrankungen .
    Bei Hunden Arthrosen der großen und kleinen Gelenke, Hüftgelenksdysplasie, akute Discopathie (Bandscheibenvorfall), Cervikal-und Lendenwirbelsyndrom, Patellaluxation, Spondylose sowie bestimmte lokale Pyodermien (Hauterkrankungen).
    Eine besondere Technik ist die "Hirudinopunktur", bei der Blutegel auf spezielle Akupunkturpunkte gesetzt werden.

    Da viele Therapeuten in der Praxis schon den oft erstaunlichen Nutzen dieser Ringelwürmer (Annelida, nächster Verwandter = Regenwurm) erlebt haben, wächst auch ihr Interesse an diesen archaischen Tieren, die mit ihren 5 Augenpaaren auf weit mehr als 650.000.000 Jahre erfolgreicher Innovationen zurückblicken können.
    Wenn sie auch archaisch erscheinen mögen: Sie waren bis heute sehr erfolgreich mit ihrem insgeheim ständig verbesserten biologischen Equipment, und gerade diese evolutiven Verfeinerungen waren es, die sie manchmal an den Rand der Ausrottung brachten. Biologisch gesehen waren sie mit dem, was sie für ihr Auskommen zu geben hatten, immer up-to-date. Heute, da die Technik das Bild der Medizin zu beherrschen droht, erscheint es vielen Therapeuten, als sei die Anwendung von Blutegeln ein irrationaler Rückfall ins Mittelalter, Aberglaube oder Scharlatanerie. Man vergisst dabei offenbar, dass die raffiniertesten technischen und chemischen Errungenschaften aus der Natur stammen, woraus z.B. die Bionik, aber auch die Arzneimittelhersteller (s. Penicillin) ihr Know-How schöpfen.
    Ein schönes Beispiel für natürlich-raffinierte Technik sind z.B. die Struktur und die Funktion der Kieferleisten der Egel. Blutegel tragen drei Kiefer im Schlund, die mit scharfen Zähnchen versehen sind. Der Egel setzt sich auf die Haut, hält sich mit Hilfe der Haftscheiben fest und erzeugt mit seinen drei Kiefern eine mercedesstern-artige Wunde, dann saugt er sich voll.
    Der Blutegel gehört zur Gruppe der Ringelwürmer und hat an beiden Enden eine Haftscheibe, die hintere Haftscheibe ist größer als die vordere. Blutegel ernähren sich von Blut, wobei die Verdauung einer einzigen Mahlzeit bis zu zwei Jahre dauern kann. Auch ganz ohne Nahrung kann der Egel bis zu zwei Jahre leben.

    Wenn auch das Bild der Blutegel immer noch bei manchen Menschen (Egel kommt übrigens nicht von Ekel, sondern von "echis" = kleine Schlange (griech.)) von vielen Vorurteilen geprägt ist, die Wirksamkeit bei verschiedenen Indikationen ist in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen zweifelsfrei dokumentiert. Außerdem gehören Blutegel zu den ältesten Heilmitteln, die wir kennen, sodass ein immenses Erfahrungswissen besteht.
    Die grundsätzliche Doppelwirkung des Blutegelbisses, -gleichzeitig Injektion von heilsamen (z.B. gerinnungshemmenden) Substanzen und Absaugen von dadurch etwa verflüssigten Thromben - hat ihm 1987 in der rekonstruktiven Chirurgie der Humanmedizin zu einem zusätzlichen Schub bei seinem "Comeback" verholfen: In diesem Jahr führte der Chirurg Professor J. Upton Blutegel wieder in die rekonstruktive Chirurgie ein und rettete damit z.B. das vollständig abgerissene Ohr eines kleinen Jungen. Das wollte nämlich nach einer zunächst erfolgreichen Replantation infolge der Bildung von Thrombosen nicht wieder anwachsen. Die Blutgefäße und Kapillaren der gegenüberliegenden Hautlappen konnten sich nicht zu einem funktionierenden Kreislauf zusammenschließen.
    Exemplarisch lässt sich an diesem Beispiel schildern, wie sich der mikro- chirurgische Eingriff vollzieht: Nach dem Ansetzen von Blutegeln an der thrombosenreichen Stelle "sägt" der Blutegel die Haut fast schmerzfrei mercedesstern-artig auf. Dazu steht ihm ein von der Evolution geradezu "genial" konstruiertes Instrumentarium zur Verfügung: sein Beißapparat am Mundsaugnapf. Währendessen erfolgt schon die Injektion des Wirkstoffcocktails (=SALlVA=Blutegelspeichel) durch die interdentalen Öffnungen und das Absaugen des verflüssigten Blutes. Die freigelegten kleinen Gefäße und Kapillaren konnten anastomosieren, das Ohr wuchs wieder an und der Blutegel hatte seine Approbation zurück.
    Übrigens werden Blutegel heutzutage nach Transplantationen von Gliedern häufig eingesetzt, weil sie das Anwachsen der Implantate deutlich erleichtern.

    Von der Zusammensetzung der SALIVA und den weiteren Wirkungen hier eine kurze Zusammenfassung:
    Im Prinzip gibt es keinen Unterschied zwischen dem therapeutischen Einsatz von Blutegeln bei Menschen oder bei Tieren. Im Grunde resultiert der Erfolg - je nach Indikation in unterschiedlichem Verhältnis- sowohl aus Aderlass und Absaugen als auch aus der Wirkung des Substanzcocktails, der in die vom Blutegel gesetzte, sternförmige Wunde abgegeben wird. Drei halblinsenförmige Kieferleisten, apikal jeweils mit ca. 80 Kalkzähnchen besetzt, sägen konzentrisch angeordnete Schlitze in die Haut.
    Zwischen den Kalkzähnchen münden die Kanäle der separaten Speichelzellen. Die Sekrete der Speichelzellen werden so durch die Sägebewegungen sehr effizient immer tiefer in die Hautschichten eingerieben, ohne dass nennenswerte Schmerzen auftreten. Ob diese relative Schmerzfreiheit die Folge eines Anästhetikums im Speichel ist, ist umstritten.
    Die Wirkung der eingebrachten Substanzen ist vielfältig. Der bekannteste Wirkstoff ist das HIRUDIN. Hirudin bewirkt eine schnelle Gerinnungshemmung des Blutes, indem es das für die Gerinnung nötige Thrombin inaktiviert. Dieser schnellen Gerinnungshemmung folgt die ca. 12 Stunden dauernde Hemmwirkung des CALlNīs auf den Verschluss der Wunde. Das ist die Ursache für die lange Nachblutung. In der Anfangsphase bereitet die HYALURONIDASE (aufgrund der Wirkung auch als "spreading factor" oder unter dem Warenzeichen "Orgelase" bekannt) im Interstitium mucolytisch den Weg für weitere Substanzen vor.
    Infolge der schleimlösenden Eigenschaften der Hyaluronidase werden auch antibiotische Eigenschaften vermutet (Schleimkapseln von Bakterien können angegriffen werden), die aber nicht erwiesen sind. Die nun ins Gewebe folgenden Wirkstoffe sind die EGLINE a,b,c, die sowohl an der Gerinnungs-, Elastase- wie auch an einer Entzündungshemmung Anteil haben. BDELLINE, APYRASE und KOLLAGENASE spielen spezifische Rollen in der Gerinnungshemmung, eine histaminähnliche Substanz wirkt gefäßerweiternd. Es gibt noch eine Reihe weiterer Substanzen, deren Wirkmechanismen noch unzulänglich bekannt sind, und wahrscheinlich wird es noch Neuentdeckungen geben.
    Die Speicheldrüsen sind z.B. nachweislich keimfrei, auch wenn Blutegel Parasiten im Darm tragen sollten, (selbst die hochinfektiösen Milzbranderreger im Intestinum der Blutegel) verursachen diese bei fachgerechtem Gebrauch keine Infektionen bei anderen Tieren, wie Versuche zeigten (Bottenberg,1983).
    Egline z.B. wirken darüber hinaus entzündungshemmend. Gesundheitliche Effizienz wäre auch etwa eine Erklärung für das Phänomen des bis zu 12 Stunden und mehr andauernden Nachblutens (mit Hilfe einer eigens dafür "erfundenen" Substanz, dem Calin; s.o.): Die Wunde wird so von Sekundärinfektionen gereinigt und bewirkt darüber hinaus einen sanften Aderlass! Weitere Aspekte des breiten Wirkungsspektrums wurden bereits angedeutet.
    In der modernen Ökologie heißt das Prinzip gegenseitiger Förderung "nachhaltige Nutzung", die Strategie, mit der auch wir mit unseren knapper werdenden Ressourcen verfahren sollten - und sind Blutegel dafür nicht ein schönes Symbol?

    Im letzten Jahrhundert wurden die Blutegel infolge einer "Überbenutzung" ("Vampyrismus: bis zu 100 Egel wurden einem Menschen angesetzt !!!) fast komplett ausgerottet. Hinzu kamen natürlich auch ökologische Veränderungen, wie z.B. die Trockenlegung von Feuchtgebieten. Heute werden Egel in wenigen Zuchtfarmen gezüchtet (eine davon befindet sich in Mittelhessen). Sie leben- bis zu ihrem "Einsatz"- in reinem, entkeimten Bachwasser in Teichen, deren Wasserqualität und Ökosysteme ständig überwacht werden. Die Zuchttiere wachsen dort ca. 2-3 Jahre (nach ihrem "schlüpfen" aus einem Kokon) heran bis zu einem Gewicht von ca. 2-4 g, dann kommen sie in aller Regel in den Verkauf. Auch über Apotheken kann man natürlich gezüchtet Egel bestellen, auch wenn der Apotheker sich vielleicht wundert.... Zur "Aufbewahrung" hält man die Blutegel am besten in einem verschlossenen Gefäß (kurzfristig z.B. Weckglas für längerfristige Aufbewahrung empfiehlt sich ein Aquarium) mit ein paar Steinen darin, denn das hilft den Egeln beim abstreifen der Haut, denn Egel häuten sich relativ häufig (alle 2-4 Tage). Ein hoher Sauerstoffgehalt des Wassers ist nicht unbedingt nötig, da die Tiere zur Not sogar auf anaerobe Atmung umschalten können !

    Kommt der Egel dann zum Einsatz, sollte man einige Dinge beachten:

    1. Blutegel sind nur bei bestimmten Erkrankungen unter bestimmten Voraussetzungen ein wirklich gutes, effektives Heilmittel, niemals sollte man deshalb ohne vorherige Absprache mit einem Therapeuten Blutegel eigenverantwortlich einsetzen.

    2. Ein Risiko besteht bei der Behandlung von Kleintieren (auch kleine Hunderassen), deren Köpergewicht unter 10kg liegt, hier müssen das Risiko und der Nutzen genau abgewogen werden. Durch das Absaugen und die Nachblutung kann es unter ungünstigen Umständen sogar zum Tod des behandelten Tieres kommen.

    3. Komplikationen (z.B. Allergien, Wundinfektionen) sind äußerst selten, dennoch können sie vorkommen, deshalb müssen die behandelten Tiere auch noch mindestens eine Woche nach der Behandlung gut beobachtet werden.

    4. Die voraussichtliche Bissstelle sollte ggf. rasiert (bei kurzhaarigen Hunden, Pferden, evtl. nicht nötig) und mit klarem Wasser gereinigt werden. Bei sehr kalten Außentemperaturen empfiehlt sich hierbei warmes Wasser zu nehmen (Egel reagieren auf "Warmblüter" und meiden eher kalte Hautpartien) um die "Bissfreudigkeit" des Egels zu stimulieren. Die Temperatursensoren der Egel registrieren nämlich die optimale "Bisstemperatur". Das Abreiben der Bissstelle mit einem Frottetuch zur Erwärmung der Haut kann den gleichen Effekt erzielen.

    5. Hat der Egel zugebissen, saugt er etwa 20-50 ml Blut. Man kann den Saugvorgang an den rhythmischen Bewegungen sehen, die der Egel dabei vollführt. Die Haut des Egels ist wie eine Ziehharmonika gefaltet und das ermöglicht es ihm, das 6-10fache Köpervolumen zu erreichen.

    Nach ca. 5-15 Minuten lässt sich der vollgesaugte Egel einfach abfallen und die Wunde blutet nach.
    Benutzte Egel können an die Zuchtfarmen zurückgegeben werden, hier gelangen sie zwar nicht mehr in den Verkehr, werden aber zu Studienzwecken genutzt. Immerhin ist dies eine sinnvolle Alternative, anstatt die kleinen Helfer in Alkohol zu töten, nachdem sie ihre Arbeit erledigt haben!
    Fällt der Egel nicht ab oder möchte man ihn vorzeitig entfernen, hilft es, Salz auf den Egel zu streuen. Hierdurch lassen die Egel sofort los, allerdings ist dabei Vorsicht geboten, denn zuviel Salz kann auch ein Erbrechen des Egels hervorrufen. Dadurch gerät evtl. der Darminhalt des Egels in die Wunde und löst hier eine Infektion aus. Natürlicher und in jedem Fall besser ist es zu warten, bis der kleine Helfer satt ist und von alleine loslässt. Niemals darf man Egel abreißen oder zu stark quetschen, hierdurch werden Entzündungen verursacht deren Behandlung meist langwierig ist.

    6. Nach dem Abfallen des Egels sollte die offene Wunde noch ca. 30 Minuten nachbluten, bevor man sie verbindet. Bei Pferden kann man sich den Verband sehr oft ersparen, bei Hunden, die in der Wohnung leben, ist ein 12stündiges Nachbluten nicht unbedingt zur Freude der Besitzer und deshalb sollten die Wunden dann auch mit sterilen Kompressen versorgt werden.

    Fazit:
    Eine jahrhundertealte Therapieform kann u.U. dazu beitragen, dass Erkrankungen geheilt, gemildert oder günstig beeinflusst werden, man sollte sie deshalb nicht von vorneherein als unästhetisch, zeitraubend und uneffektiv abtun oder auf andere Präparate (aus Blutegelwirkstoff gewonnen) ausweichen, die natürlich nicht den gleichen Effekt erzielen können.
    Bei unseren Haustieren eingesetzt sind die Blutegel bisweilen in der Lage ungeahnte Erfolge zu erzielen und warum sollten Tiere nicht auch als Assistenten beim Heilen von Tieren zum Einsatz kommen?

    Sabine Kreil
    Dipl.-Tierheilpraktikerin
    www.thp-tierheilpraktiker.de