Linda - geliebt, gehasst und ausgesetzt...


Linda 23.06.2001

Es ist Samstag, mein Handy klingelt und die Tierheimleiterin des örtlichen Tierschutzvereines ist völlig aufgelöst am anderen Ende der Leitung: "Frau Kreil, sie müssen sofort kommen, ein Notfall !"

Ich traue mich gar nicht erst nachzufragen, worum es denn geht, zu aufgeregt klingt die Stimme.....

Ich rase in Windeseile zum Tierheim, dort werde ich schon erwartet: "Kommen sie schnell" und ich eile hinterher. Eine Tür geht auf und da liegt sie, ein kleines Boxermädchen. Zu schwach um den Kopf zu heben, zu schwach, um zu gehen oder zu stehen, zu schwach, um mit dem Stummelschwänzchen zu wedeln. Röchelnde Atemgeräusche sind zu hören, ganz schwach und leise. Ich nähere mich vorsichtig, bettelnde Kulleraugen schauen mich an, hilf mir doch, sagt dieser Blick. Aber eher: Hilf mir zu sterben, als hilf mir zu leben.......

Abgemagert bis zum Skelett, völlig entkräftet und ausgetrocknet liegt dieses kleine Hundchen zitternd auf ihrer Decke......

Mir steigt ein Kloß in den Hals, als ich frage, woher sie kommt. Sie wurde halb tot im Strassengraben gefunden und im Tierheim abgegeben, aber die Chancen, dass sie überleben wird sind äußerst gering. Ein Blick auf ihre Zähne verrät mir, dass dieser Hund erst maximal ein Jahr alt sein kann. Was hat sie wohl schon alles durchmachen müssen ??
Kurz entschlossen hole ich eine Decke aus meinem Auto und packe sie ein, der Kampf beginnt !!

Zu Hause angekommen wird in Windeseile ein Zimmer für sie hergerichtet (leider kann sie wegen der Ansteckungsgefahr nicht zu den anderen Boxern) und dort in ihrem warmen Körbchen kann ich sie erst einmal richtig untersuchen. Dieser Hund ist mehr tot als lebendig...... Es gibt fast nichts, was sie nicht hat, eine deftige Lungenentzündung, schrecklichen Husten, Schnupfen, Durchfall, Parasiten, ganz zu schweigen von ihrem Futterzustand...... Ich will sie unbedingt am Leben erhalten, deshalb bekommt sie erst einmal einige Infusionen, damit sie nicht völlig vertrocknet. Ich habe wenig Hoffnung......

24.06.2001

Noch ist sie am Leben, inzwischen weiß ich, dass sie nicht taub ist, wie ich am Anfang vermutet hatte, weil sie auf keinerlei Geräusche reagierte. Durch eine Entzündung der Ohren, ist der Gehörgang so stark geschwollen und verdreckt, dass sie nichts mehr hören kann. Das säubern der Ohren und die Behandlung lässt sie einfach über sich ergehen, ohne Reaktion. Mittlerweile läuft ihr dicker gelbgrüner Eiter aus allen Körperöffnungen. Eine Urinuntersuchung zeigt eine derart hohe Eiweißkonzentration, dass ich meinen Augen nicht traue. Durch die völlige Entkräftung baut ihr Organismus mittlerweile also schon das körpereigene Eiweiß ab (die Kohlehydrate sind schon alle verbraucht).
Ich glaube immer noch nicht daran, dass sie überleben wird....

25.06.2001

Morgens hebt sie zum ersten Mal ihr Köpfchen und schaut mich leidend an. Ich leide mit ihr !! Vorsichtig flösse ich ihr die erste Nahrung ein, die sie nach kürzester Zeit wieder erbricht. Also wieder zurück zu den Infusionen. Mittlerweile reiht sich schon eine "Batterie" von Medikamenten neben ihrem Körbchen auf.
Sie hustet ganz fürchterlich und ist schrecklich lebensschwach.....

26.06.2001

Ich bin glücklich, als sie erstmals aufsteht und ein paar unsichere Schritte wagt, dann versagt ihr Kreislauf und ich fange sie auf. Zum ersten Mal wage ich daran zu denken, dass sie wirklich überleben könnte. Die eingeflösste Nahrung wird immer noch erbrochen, ebenso jegliche Flüssigkeit. Mittlerweile haben die Kinder hier im Dorf von ihr erfahren und kommen sie besuchen, um sie zu streicheln und ihr Mut zu machen. Sie scheint es zu geniessen, wenn die kleinen Händchen ihr sanft über das Köpfchen streichen. Vor "großen Menschen" hat sie sichtlich Angst, offensichtlich mehr vor Männern, dann macht sie sich ganz klein in ihrem Körbchen und zittert. Wurde sie vielleicht auch geschlagen ??

27.06.2001

Sie hat einen Namen bekommen ! Nach langer Diskussion haben sich die Kinder auf "LINDA" geeinigt. Also heißt das Sorgenkind jetzt Linda.
Linda ist immer noch sehr schwach und sehr krank. Sie schafft es kaum einige Schritte zu machen und ist danach total am Ende. Die Medikamente nimmt sie immer bereitwillig und ganz lieb ein, egal wie schrecklich das Zeug auch schmeckt ! Ich bin voller Hoffnung, dass sie es schaffen wird....

28.06.2001

Langsam verliert sie ihr "Teddyfell" und eine wunderschöne goldgelbe Farbe kommt zum Vorschein (man kann sie zumindest ahnen). Ich muss unendlich viele Male ihr Näschen und ihre Augen von Krusten befreien, damit sie besser Luft bekommt. Der Husten schwächt sie immer noch sehr und laufen kann sie auch erst wenige Schritte bis sie völlig erschöpft ist. Fressen will sie nicht richtig, da sie das Gefressene sowieso beim nächsten Husten wieder erbricht. Ich bin verzweifelt....
Ich rufe zum wiederholten Mal in der Apotheke an, um neue Medikamente zu ordern. Die Apotheke versucht immer so schnell wie möglich das Gewünschte zu beschaffen und bringt es mir dann sogar nach Hause ! Linda wird immer dünner, sie wiegt immerhin 10 kg, welche Ironie......

29.06.2001

Endlich, die Medikamente "greifen", Linda´s Schnupfen ist wesentlich besser und die Bindehautentzündung ist auch fast verschwunden. Sie kann wieder hören und wedelt auch jetzt ganz zaghaft mit dem Schwänzchen, wenn ich zu ihr komme. Ich wage zum ersten Mal die vorsichtige Prognose, dass sie leben wird !!

30.06.2001

Linda macht einen "winzigen" Spaziergang auf die Wiese gegenüber, sie ist immer noch sehr schwach und kann sich kaum auf den Beinen halten.
Da das Wetter gut ist, darf sie eine halbe Stunde in den Garten. Auch hier legt sie sich sofort auf eine Decke und schläft. Sie hat keinerlei Interesse an ihrer Umwelt, auch nicht an den anderen "Samtnasen", die sich die Schnauzen an der Scheibe plattdrücken und zu gerne in den Garten möchten..... Sie frisst alle halbe Stunde ganz kleine Portiönchen und versucht wenigstens die Hälfte bei sich zu behalten. Ich bin nun fast sicher, dass sie es schaffen wird.......

01.07.2001

Im Garten, wo es schön sonnig und warm ist, liegt sie jetzt stundenweise in ihrem Körbchen und nach und nach erwacht ein wenig Interesse an der Umwelt. Sie hebt zumindest das Köpfchen, wenn Passanten am Garten vorbeilaufen. Sie bekommt hochwertiges, proteinreiches Futter und verträgt es ein wenig besser als vorher. Der Husten ist so schlimm, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann. Aber ich glaube, dass sie leben will, ich sehe, wie sie sich freut, wenn ich bei ihr bin....

05.07.2001

Na also, das Futter bleibt zum größten Teil "drin" und sie hat tatsächlich schon vier Kilo zugenommen !! Trotzdem sieht sie noch aus wie ein Skelett. Heute mache ich das erste Foto von ihr (Foto anbei), denn ich weiß, sie wird es schaffen. Morgens geht sie jetzt immer mit ins Büro und lernt dort viele neue Menschen kennen. Anfangs ist sie sehr schüchtern, aber von Tag zu Tag wird es besser. Mittlerweile ist auch der Husten besser geworden und die Bindehautentzündung ist verschwunden. Sie fängt an sich für Spielzeug zu interessieren !

10.07.2001

Inzwischen hat sie richtige Lebenslust entdeckt ! Es geht mit großen Schritten vorwärts ! Einmal täglich darf sie mit den "Großen" Gassi gehen und das ist das Ereignis des Tages. Sie flitzt mit den anderen um die Wette und lernt neugierig die Welt kennen. Inzwischen sieht sie schon sehr viel besser aus, sie wird "runder" und das Teddyfell ist fast ganz verschwunden. Ihre Lungenentzündung ist ausgeheilt, der Schnupfen ist weg. Die Verdauung funktioniert einigermaßen gut. Also heißt es jetzt nur noch: Zunehmen, zunehmen, zunehmen.... Sie futtert auch ordentlich was weg. Mittlerweile bekommt sie fünf Portionen täglich, die sie sehr gut verträgt.

11.07.2001

So, heute hat Linda ihren ersten öffentlichen Auftritt. Heute ist die örtliche Presse hier, um über die Notboxer zu berichten. Linda wird fotografiert und landet prompt ein paar Tage später auf der Titelseite !
Wow, sieht sie da gut aus..... und es melden sich über achtzig Menschen, die ihr helfen möchten.....

Und später:
Jetzt muß ich mir keine Sorgen mehr machen, mein "Hühnchen", wie ich sie liebevoll genannt habe, ist über den Berg ! Linda lernt hier jetzt viele neue Notboxer kennen, die sie alle mag und mit denen sie tobt und spielt. Max ist einer davon (nicht zu vergessen: Flashman, Floor, Leopold, Ringo, usw...), mit Max fährt Linda dann zum WDR-Fernsehen.
Hier hat sie einen glanzvollen Auftritt und es rufen mehr als hundert Menschen an, die Linda gerne eine neue Heimat geben möchten.
Linda fährt oft mit mir mit, wenn ich andere Tiere behandele und kennt inzwischen Pferde, Ziegen, Hühner (hat sie zum fressen gern), Katzen, andere Hunde und viele, viele Hände, die sie immer streicheln. Linda kann spielen und toben und hat ganz kräftig zugenommen, langsam muß ich aufpassen, dass sie kein Pummelchen wird.
Jetzt ist die Zeit des Abschiednehmens da, Linda kann und muß vermittelt werden. Bei all den vielen Interessenten ist eine Familie mit einem Boxerrüden "Ghandi". Linda liebt Ghandi und er sie.
Dort soll sie zukünftig leben !
Linda Linda zieht um, ich bringe sie eigenhändig ins neue Zuhause. Dort angekommen geht alles recht reibungslos und harmonisch (bis auf eine kleine Auseinandersetzung mit dem Papageien der Familie) und ich fahre nach Hause..... mit zwei Gefühlslagen gleichzeitig: Zum einen bin ich so unendlich froh, dass der kleine Fratz es tatsächlich geschafft hat, zum anderen tut es schon ein bisschen weh, jetzt Abschied zu nehmen....
Ich werde sie ja regelmäßig sehen können und bei Ghandi und seiner Familie wird sie sehr glücklich sein und bei mir ist wieder Platz für neue "Notwauzis". Also alles in allem, ein Happy-End, wie es schöner nicht hätte sein können !!!!!!!


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